MARTINAS GESCHICHTE

Martina (fiktiver Name) ist 44 Jahre alt und geht beim Blauen Kreuz Tschechien in Beratung. Sie ist verheiratet und hat einen zwei Jahre alten Sohn. Sie war bereit, uns ihre Lebensgeschichte zu erzählen, da sie hofft, dass diese Menschen helfen wird, die sich in einer ähnlichen Situation befinden wie sie. Nach mehr als zwanzig Jahren Abhängigkeit, lebt Martina heute abstinent.

Martinas Zeugnis:

Ich wurde als eines von drei Kindern in eine Familie hineingeboren, die der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehört. Bald nach Beendigung der Oberschule habe ich geheiratet. Die Zeugen Jehovas heiraten oftmals innerhalb ihrer Gemeinschaft und so heiratete ich einen Mann mit demselben religiösen Hintergrund. Es war nicht Liebe. Ich tat einfach, was von mir erwartet wurde. Leider kam mein Mann kurz nach der Heirat für anderthalb Jahre ins Gefängnis. Dem Kommunismus war jegliche Religion suspekt. Als Zeuge Jehovas hatte er während seines Wehrdienstes bestimmte Befehle verweigert. So landete er im Gefängnis und ich war zum ersten Mal in meinem Leben allein – alleine in einer Mietwohnung, 18 Jahre alt und sehr einsam. Es traten bei mir die ersten Essstörungen auf, Bulimie, und ich machte meine erste Bekanntschaft mit einem psychiatrischen Krankenhaus. Als mein Mann wieder freikam, wurde alles noch schlimmer. Er war im Gefängnis ein anderer Mensch geworden und ich hatte das Gefühl, mit einem Fremden zusammenzuleben. Ich begann, im Alter von 21, mit Alkohol, hauptsächlich um meine Schamgefühle wegen der Bulimie zu verdrängen. Mit 23 war mein Gesundheitszustand so schlecht, dass ich zur Invalidin erklärt wurde. Als Invalidin war es mir verboten zu arbeiten und ich geriet bald in einen Teufelskreis von Einsamkeit, Untätigkeit und Verzweiflung, während ich in die Bulimie und in den Alkohol flüchtete, um meine Probleme zu vergessen.

Während meiner ersten Ehe, die 10 Jahre dauerte, wurde ich mindestens einmal im Jahr in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert. Ich war gerne im Krankenhaus. Mir gefiel der geregelte Tagesablauf. Mir gefiel, dass man sich um mich kümmerte, und am allermeisten gefiel mir die Tatsache, dass ich dort nicht alleine war. Während einer solchen Behandlung lernte ich meinen zweiten Mann kennen. Meine zweite Ehe war ein Wendepunkt in dem Sinn, dass ich die Zeugen Jehovas verlies. Dieser Bruch war wichtig für mich, aber ich bezahlte einen sehr hohen Preis dafür, denn ich verlor meine Familie, meine Freunde und meine Gemeinschaft. Ich war einsamer denn je. Und ausserdem hatten mein neuer Ehemann und ich ein ernstes Alkoholproblem. Mein neuer Ehemann war ein schwerer Trinker. Kaum hatten wir eine Behandlung hinter uns, waren wir beinahe wieder reif für die nächste. Nach jedem Entzug wurde ich wieder rückfällig. Wir bekamen allmählich auch ernsthafte finanzielle Probleme. Als ich schließlich ganz am Ende war, gab mir meine Schwägerin, auch eine ehemalige Alkoholikerin, den Rat, mich von ihrem Bruder zu trennen und ein neues Leben zu beginnen, was ich auch tat. Meine zweite Ehe hatte nicht einmal ein Jahr gehalten.

Meinen dritten Mann lernte ich über eine Kontaktanzeige kennen, die ich aufgegeben hatte. Das ist jetzt 10 Jahre her und ich bin immer noch mit demselben Mann verheiratet. Gleich nachdem ich ihn kennengelernt hatte, zog ich bei ihm ein. Wir hatten ein schweres erstes Jahr. Ich litt immer noch unter Essstörungen und Alkoholproblemen und ich plagte mich mit Selbstmordabsichten. Doch diesmal hatte ich einen Mann, der mich unterstützte und versuchte, mir zu helfen. Und dann, ganz allmählich – und trotz weiterer Rückfälle – gelang es mir, wieder ein “normales Leben” zu beginnen. Der wirkliche Wendepunkt war die Geburt meines Sohnes, der jetzt zwei ist. Mein Sohn hat mir einen Sinn im Leben gegeben und er ist meine größte Motivation, mit dem Trinken aufzuhören.

Eines Tages, als ich mal wieder bei meinem Psychiater war, fiel mir eine Broschüre in die Hände und sah ich ein neues Schild an der Wand. Eine Organisation, die “Blaues Kreuz” hiess, war in den zweiten Stock des Gebäudes eingezogen, in dem der Psychiater tätig war, der mich seit 15 Jahren begleitet hatte. Das war im November 2009 und seitdem bin ich Klientin bei der örtlichen Beratungsstelle des Blauen Kreuzes. Die Beratung beim Blauen Kreuz hat wirklich etwas bei mir bewirkt. Wenn ich die Zeit zusammenzähle, die ich im psychiatrischen Krankenhaus verbracht habe, dann stelle ich fest, dass ich 7 Jahre meines Lebens in stationärer Behandlung verbracht habe. Ich weiss also, wovon ich rede. Der wesentliche Unterschied ist für mich die Qualität. Die Psychiatrie – so wie ich sie erlebt habe – hat sich hauptsächlich auf medikamentöse Behandlung verlassen. Bei der Psychotherapie hatte ich es sehr viel mit “Du musst dies, du musst das” zu tun, was sehr von oben herab wirkte. In der Psychotherapie haben wir auch viel über mein Leben geredet und sehr wenig über meine Sucht. Als ich meine Einzeltherapie bei der Beratungsstelle des Blauen Kreuzes begann, habe ich zum ersten Mal eine Therapie erlebt, die wirklich auf die Sucht ausgerichtet war, wo ich über konkrete Probleme reden konnte, die mit meiner Abhängigkeit zu tun hatten. Ausserdem war es das erste Mal in meiner Krankheitsgeschichte, dass ich eingeladen wurde, meinen Mann in die Therapie mit einzubeziehen. Er war zwar nur bei einer Sitzung dabei, aber seitdem hat sich unsere Kommunikation deutlich verbessert. Jetzt gehe ich zur Therapie, und wenn ich nach Hause komme, erzähle ich meinem Mann, worüber wir gesprochen haben, und dann denken wir gemeinsam darüber nach. Diese neue Herangehensweise hat bei mir eine erstaunliche Wirkung gehabt: Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich weniger schuldig. Mir wird klar, dass nicht alles meine Schuld ist. Mir wird klar, dass Alkohol nicht nur für den Einzelnen ein Problem ist sondern für die ganze Familie. Ich bin mit meinem Problem nicht mehr alleine.

Ganz besonders stolz bin ich darauf, dass ich zu den allerersten gehören werde, die bei der neuen Selbsthilfegruppe des Blauen Kreuzes für ehemalige Alkoholabhängige mitmachen, die nächste Woche hier in der Beratungsstelle mit ihrer Arbeit beginnt! Übrigens: Ich bin inzwischen völlig abstinent, aber ehrlich gesagt, leicht fällt es mir immer noch nicht!

Karvina, April 2010

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